Archiv: Theaterstücke


Die weiteren Waggonhallen-Produktion in Kooperation mit theater-im-grund

In die neue Welt

von Willi Schmidt

Das Theaterprojekt "In die neue Welt" ist eine Fortsetzungsgeschichte von unterschiedlichen Inszenierungen, bei denen oberhessische Dorfgeschichte anhand konkreter Geschichten mit modernen künstlerischen Formen erlebbar gemacht wird.


Teil 1: Die Gedanken sind frei, 1912

Uraufführung Herbst 2007


Das vom gebürtigen Wittelsberger Willi Schmidt konzipierte Stück wurde mit jungen Leuten entwickelt, die fast alle aus Dörfern der Region Marburger Land stammen.
Maßgeblich unterstützt wurden sie bei der Realisierung durch die Hessische Volkskunstgilde e.V., die nicht nur echte Trachten und Utensilien zur Verfügung stellt, sondern auch in das Stück eingebunden historische Bräuche, Tanz und Musik beisteuert.

Ein oberhessisches Dorf vor 100 Jahren. Nach dem Kirmes-Besuch ein paar Dörfer weiter kommen "Burschen" und "Weibsleute" nachts auf dem Heimweg  an den Bahnhof im Nachbardorf. Einer hat die Idee, nach Hause nicht noch zu laufen, sondern mit der Bahn zu fahren. Der Sonderzug besteht aus einem leeren Holzwaggon. Sie schieben diesen vom Nebengleis auf das Hauptgleis und stellen die Weichen richtig. Bei dem Gefälle können sie auf die Lokomotive verzichten, der Wagen läuft von selbst. Einer bedient rechtzeitig die Bremse, damit es nicht zu schnell geht.
Mit dieser Überlieferung aus der Wittelsberger Dorfchronik beginnt das Stück um die beiden befreundeten Knechte Gotthard und Heinrich sowie der Bauerntochter Luise. Das Dorfleben ist bis hinein in persönliche Beziehungen streng reglementiert. Als sich Gotthard, der Knecht und Luise, die Bauerntochter verlieben, ist das eine Unmöglichkeit. Luises Schwester wurde schon in den Burgwald verheiratet und als diese stirbt, soll sie - wie es in dieser Zeit nicht unüblich war - die neue Frau ihres Schwagers werden. Doch Luise ist widerspenstig, hat Träume von einem anderen Leben und Gotthard und Heinrich haben von Auswanderern nach Amerika gehört, wo alle frei sein sollen, wo es keine Standesunterschiede geben soll...


Teil 2: Die lange Nacht, 1913-14

Uraufführung Frühjahr 2009

Anfang 2009 folgte die Fortsetzung der Geschichte: „In die neue Welt, Teil 2, 1913-14: Die lange Nacht“.



Zwei Knechte sind fort aus dem Dorf, um nach Amerika auszuwandern. Gefolgt ist ihnen die Bauerntochter Luise, die in einen der Knechte verliebt ist. Bevor es jedoch nach Amerika gehen kann, sind sie in Hamburg gelandet und versuchen sich dort mit Gelegenheitsarbeit Geld zu verschaffen. Hier beginnt die neue Geschichte: In Parallelbildern wird gezeigt wie es den „Geflüchteten“ im proletarischen Milieu des Hamburger Hafenviertels ergeht und was gleichzeitig im oberhessischen Dorf bei den „Daheimgebliebenen“ geschieht. Hier dreht sich das Geschehen um die traditionelle Spinnstube, die in authentischen Szenen, Liedern und Tänzen erneut von Mitgliedern der Volkstanz- und Trachtengilde dargestellt wird. In diese traditionelle dörfliche Welt ist eine fremde Person „eingedrungen“, aufgenommen worden vom alten Bauern, dem Vater der geflüchteten Luise; so dass diese Welt „aus den Fugen“ zu geraten scheint. Derweil  hat sich im Hamburger Hinterhofviertel der ehemalige Knecht Heinrich, der jetzt Arbeiter bei der Hamburger Hochbahn ist, zunehmend politisiert und engagiert sich bei den Kommunisten. Auch Luise, die Bauerntochter, zieht es – im Gegensatz zu ihrem Freund Gotthard – immer weniger nach Amerika. Sie ist in Kontakt gekommen mit Künstlern, die nach neuen Ausdrucksformen suchen und fasziniert von dieser Welt.

Am Ende der Geschichte beginnt der 1. Weltkrieg...


Teil 3: Das Sängerfest, 1929

Uraufführung Herbst 2010



Im Mittelpunkt des 3. Teils „Das Sängerfest“ steht ein traditionelles Sängerfest im Jahr 1929. Erzählt werden vor allem Geschichten von Frauenfiguren aus der dörflichen Gesellschaft dieser Zeit. Da ist die Dienstmagd Dotje, die dem Bauern, ihrem Dienstherrn ausgeliefert ist und deren Attacken nicht mehr erträgt. Ihr Selbstmord ist Dorfgespräch beim Sängerfest, ebenso wie der Pfarrer, der angeblich mit einer alten Tradition brechen will und eine Selbstmörderin, also Dotje, christlich beerdigen möchte. Von der Haushälterin des Pfarrers, der Grete, ist aber nichts näheres zu erfahren...

Auf dem Sängerfest ist die Bauerntochter Helene aus einem Nachbardorf bei ihrer Tante zu Besuch. Dort lernt sie den Lohndrescher Georg kennen, der von der technischen Entwicklung der Zeit begeistert ist. Weitere Personen aus dem Dorf treffen beim Fest aufeinander. Parallel zu dem Sängerfestgeschehen erzählt die Dienstmagd Dotje rückblickend ihre Geschichte und wird die Haushälterin Grete beim Dorfpfarrer gezeigt.

Ergänzt wird das Theaterstück durch Auftritte eines Gesangvereins.

Die Aufführungen in Wittelsberg wurden in einem Gasthaus-Saal gezeigt, wo in früheren Zeiten tatsächlich Feste stattgefunden haben, als man noch nicht große Zelte dafür aufbaute. Aber auch für die Aufführungen in der Waggonhalle verwandelte sich das Theater in einen dörflichen Festsaal, in dem auch die Zuschauer Gäste des Sängerfestes wurden.

Alle Stücke stehen jeweils für sich, es ist für die Geschichte nicht nötig die jeweils anderen Teile gesehen zu haben.


Waggonhallen-Produktion in Kooperation mit theater-im-grund

Das Wirtshaus an der Lahn

von Willi Schmidt, Regie: Matze Schmidt. Ausstattung: Daniela Vogt

Teil 1: Uraufführung Juli 2010, Live-Musik mit der Band "Lahntaler"

Das Marburger Wirtshaus an der Lahn ist Legende. Über Jahrhunderte war der malerisch an der Lahn gelegene Fachwerkhof Treffpunkt für Fuhrleute, Soldaten, Studenten und Marburger Bürger. Nicht immer hatte das Wirtshaus einen bürgerlich-tadellosen Ruf und war den strengen Sittenwächtern der Universität zeitweise ein Dorn im Auge, verführte es nach deren Meinung die Studenten doch zu einem „Lotterleben“. 1970 wurde das Wirtshaus an der Lahn abgerissen und stattdessen ein Hochhaus errichtet, der sogenannte „Affenfelsen“ am Fuß der Adenauerbrücke. Mit dem Abriss 1970 setzt auch die Geschichte des Theaterstückes von Willi Schmidt ein, bei dem das Wirtshaus an der Lahn in der Marburger Waggonhalle zu neuem Leben erweckt wird.

Das Stück

Es ist spät in der Nacht. Vom Abriss steht noch eine kleine Fachwerkruine. Das Studentenpärchen Peter und Gisela hat sich hierher zurückgezogen. Der Mond leuchtet kupfernfarben und nimmt die beiden jungen Leute mit auf eine Zeitreise, aus der sie am Ende des 19. Jahrhunderts erwachen.

Das Wirtshaus an der Lahn wird von der Frau Wirtin und ihrer Schwägerin Elsbeth geleitet. Gerade werden wieder altbekannte Stammgäste erwartet: Fuhrleute, die auf ihrem Handelsweg Station in Marburg machen. Zunächst aber tritt der Universitätsprofessor Priesenitz und sein Gehilfe Justus auf den Plan. Er sieht die jugendliche Sittsamkeit seiner Studenten erschüttert, sogar von einem Hurenhaus ist die Rede und er will die Wirtin zur Rede stellen. Da treffen der Professor und Justus auf das schlafende Studentenpärchen und sehen bei deren Anblick  ihre Befürchtungen bestätigt. Das Wirtshaus ist von Schließung bedroht und die Wirtin muss sich schleunigst etwas einfallen lassen, um den Professor zu besänftigen. Mit den Fuhrleuten kommen imposante Reisegeschichten, der gute Schnaps aus dem Vogelsberg und Musik in das Wirtshaus. Aber diesmal hat Hartmann, einer der Fuhrleute, noch etwas mitgebracht: eine verwahrloste, junge Frau namens Lene, die er in einem Waldstück an der Ohm gefunden hat. Die Wirtin und Elsbeth nehmen sie auf, wie sie schon des öfteren Streuner und Vagabunden aufgenommen haben, die dann eine Zeitlang in Hof und Gaststube Arbeit fanden. Nach und nach, ganz allmählich im Laufe des Stückes, entfaltet sich Lenes dramatische Lebensgeschichte. Und mit ihrer Geschichte bekommen auch die harten Lebensbedingungen der einfachen Leute, der Tagelöhner, Knechte und Mägde ihren Raum.

Einige Jahrzehnte zuvor für deren Rechte eingetreten waren u. a. der Dichter Georg Büchner und der Pfarrer Weidig mit dem „Hessischen Landboten“, der auch in Marburg gedruckt worden sein soll; ebenso wie sich Büchner und Weidig auch im Wirtshaus an der Lahn aufgehalten haben sollen. Ein alter Druck vom „Hessischen Landboten“ wird gefunden und mit ihm macht sich der Soldat Karl zu einem politisch Verfolgten. Der Professor gibt ihn zur Jagd frei. Aber Karl findet Hilfe und Unterschlupf im Wirtshaus, die Fuhrleute verhelfen ihm zur Flucht. Auch eine Bauersfrau aus dem Ebsdorfergrund ist behilflich. Sie verkauft das berühmte Dreihäuser Steinzeug und hat einige Geschichten über das Leben in den Dörfern zu erzählen.

Aus dem Studentenpärchen der 1970er Jahre sind mittlerweile Max und Marie geworden. Die Frau Wirtin hat ihnen eine neue Identität gegeben und während Marie dies hinnimmt (Was ist Traum, was ist Wahrheit?), hadert Peter/Max mit seinem Schicksal.

Am Ende finden sich dann alle beim wilden Stelldichein in der Gaststube zusammen ...


Teil 2: Marburg, 1919: Liebe, Tod und Revolution

Uraufführung Oktober 2011, Theater mit Live-Musik


Das legendäre Wirtshaus an der Lahn lebt wieder auf. 1970 wurde es abgerissen und an seiner Stelle ein Hochhaus, der so genannte „Affenfelsen“, gebaut. Das Theaterstück „Das Wirtshaus an der Lahn“ zeigt das rege Treiben im Wirtshaus zur Anfangszeit der Weimarer Republik.

Deutschland ist im Umbruch: Die Einen streben Veränderungen an, doch die Anderen versuchen an den alten Sitten festzuhalten. Pfarrer und Baron wettern gegen die Frauenrechtlerin Berta, die für ein selbstbestimmtes Leben kämpft. Doch der größte Dorn im Auge der Sittenwächter ist der linkspolitische Andreas, der mit Flugblättern und Liedern in den Straßenkampf zieht und sich dazu auch noch im Wirtshaus einnistet. Dieses leitet der Wirt Lupus, der nur noch an das Geld glaubt und am liebsten andere für sich arbeiten lässt. So wie Paula, die den Laden schmeißt oder die Hure Vicky und die Sängerin Christine. Otto, ein Marburger Student stört sich an den freizügigen Kellnerinnen und befürchtet den Verlust der öffentlichen Ordnung in seinem Land. Deshalb entschließt er sich mit dem Stammtisch des Wirtshauses ein Zeichen gegen den Sittenverfall zu setzen. Der Krieg hat viele Probleme mit sich gebracht. Besonders beschwerlich ist das Leben in der Stadt geworden: Hier dominieren Lebensmittelrationierungen und Schwarzhandel den Alltag. Johann und Anne-Mi kommen vom Land und beliefern die Städter mit Lebensmittel und Illegalem. Auf dem Dorf bestimmen Zwänge den Alltag. So müssen Johann und Anne-Mi um Ihre Liebe kämpfen. Werden die beiden jemals glücklich zusammen leben können?

Das alles entscheidet sich nach einigen dramatischen Vorfällen, für die das Wirtshaus an der Lahn Schauplatz wird.