Textauszüge aus den Theaterstücken

Textauszüge aus dem Stück "Das Lindenhaus":

Lulu: Du hast im Schlaf gelacht.

(Paul öffnet die Augen und richtet sich auf.)

Lulu: Du hast im Schlaf gelacht. Hast du geträumt?

Paul: Ich war ein Kind und lag in unserem Garten.

Unterm Kirschbaum hockt ein Mond.

Er spielt in einem Sandhaufen aus weißer Zeit.

Auf blasse Backsteinwand hüpfen Murmeln.

Der Junge gräbt eine Grube fürs Meer.

Ich sitze bei den Brennnesseln.

Die beschützen mich.

Der Ast kratzt an den Steinen unseres Hauses.

Wie ein Gebet befliegt mich schwarzer Staub.

Ich rase mit dem VW-Käfer in der Linken

Und dem 600er Mercedes-Pullmann in der Rechten

durch den Sand.

Unter den Fingernägeln sind die verbotenen Ränder von Dreck.

Die riechen nach Erde und mir.

Das ist das Glück.

 

Jenny: Du meinst also Paul, das Glück liegt nur im Augenblick.

Paul: Ja genau, das glaube ich.

Lulu: Hier gibt es kein Glück. Wir müssen weg. Weg von hier, um es zu suchen.

(Lulu schaut nach oben und stützt ihren Oberkörper nach hinten mit den Händen ab. Paul schaut sie an.)

Jenny (entschlossen): Aber es kann doch nicht egal sein wie man lebt. Ein Zuhause zu haben, sich wohl zu fühlen, mit anderen Menschen zusammen, ich meine so prinzipiell, grundsätzlich, das ist doch eigentlich Glück, auch wenn man es nicht dauernd empfindet, weil man sich ja mit ganz normalen Dingen beschäftigt, für die Schule lernt, sich um das Essen kümmert und so weiter… sich vielleicht sogar streitet, sich auf die Nerven geht – das gehört doch alles dazu, das… das brauchen wir doch! Es geht doch nicht nur um das kurze tiefe Gefühl, was dann gleich wieder vorbei ist.

Lulu: Nichts ist das alles ohne das Gefühl. Und das Gefühl muss brennen, stechen, weh tun, rasen, sich durch meinen Leib winden, an mir reißen, zerren, mich festhalten, verschlingen…- und natürlich kann das nicht halten. Natürlich vergeht das, um es wieder von Neuem zu suchen und allein die Suche, die Sehnsucht ist tausendmal mehr als das Glück eines Zuhause… was in Wahrheit gar kein Glück ist, sondern ein Trugbild, das wir uns vormachen. Weil wir faul geworden sind zu suchen. Weil wir es uns lieber in der Moral bequem machen, die uns Sicherheit gibt. Und so natürlich auch dem ganzen System. Ob es jetzt das Dorf ist oder das große Ganze.

Jenny: Jeder will doch einfach nur in Ruhe leben.

Lulu: Ich nicht. Und du Paul? Willst du auch einfach nur in Ruhe leben?

Paul: Nein, das will ich nicht. Das kann ich auch gar nicht. Die alltägliche, bürgerliche Gewalt hat uns klein gemacht und angepasst. Aber sie steckt in uns. Diese bürgerliche Gewalt in uns müssen wir bekämpfen. Sie umwandeln in Energie. Nur das macht uns frei. Dauerhaftes Glück kann es nur geben, wenn wir konsequent gegen das System kämpfen, das uns gefangen hält.

Jenny: Ja, ja, das klingt alles ganz gut. Aber was ist so schlimm daran, einfach nur sein Leben zu leben. Und das mit anderen zusammen. Wir sind doch dafür gemacht, mit anderen zusammen zu leben. Und dafür braucht man doch eine gewisse Verlässlichkeit, Vertrautheit. Lulu, wir können uns doch auch aufeinander verlassen und vertrauen uns. Das ist doch nicht einfach nur eine Sache des Augenblicks. Und dann vergessen und vorbei, egal, auf Nimmerwiedersehen.

(Alle schweigen einen Moment.)

Jenny: Ein Gewitter kommt näher.

(Lulu dreht sich zur Seite und stützt den Kopf in die Hand.)

Lulu: Ich halte diese Stille im Dorf nicht mehr aus. Diese Totenstille. Und wenn wir Sonntagnachmittags im Dorf spazieren gehen. Was sehen wir dann? Zäune und saubere Vorgärten. Selbstverständlich sind Bürgersteig und Hof gefegt. Vom Vortag. Wenn schönes Wetter ist, sieht man ab und zu ein älteres Ehepaar nebeneinander im Gartenstuhl sitzen und schweigend vor sich hinstarren. Oder man sieht Kinder auf dem Hof mit Spielzeug, beobachtet von Vater und Mutter und Befehle schwirren über den Hof: Pass auf dieses und jenes auf, mach das nicht, Vorsicht, das tut man nicht und so weiter. Und vielleicht riecht es irgendwo nach Kaffee und Kuchen. Das ist die Moral, die uns das sehen lässt und das im Verborgenen nicht sehen lässt. Das Kindergeplärr, die Schläge und irgendeinen Onkel, der gerade seine kleine Nichte fickt. Und für die ist dieser Sonntagnachmittag ein Weltuntergang. Oder ganz woanders. Irgendwo in Afrika. Nomadenstämme am Fuße des Kilimandscharo, denen das Wasser gestohlen wurde, damit es uns gut geht. Vermeintlich gut geht. Die Welt geht jeden Tag unter. Die Apokalypse ist alltägliche Realität. Das können wir sehen, wenn wir Sonntagnachmittags im Dorf spazieren gehen.

Jenny: Dafür kannst du doch nicht den Menschen hier im Dorf die Schuld geben. So einfach ist das nicht.

Lulu: Die Zusammenhänge sind so offensichtlich, dass es jeder wissen kann, der es nur will. Keine komplizierte Wissenschaft – einfach nur Verdrängung.

Jenny (steht auf): Das Gewitter ist da. Endlich. Ich geh rein.

(Fließender Lichtwechsel: Düsteres Gewitterlicht mit einem schmalen Lichtstreifen auf Lulus Gesicht und einem hellen Lichtstrahl auf das Wasser.) 

Lulu: Ich gehe gleich nach Hause.

(Lulu bleibt aber auf dem Rasen hocken, während Jenny zügig geht.)

Lulu (schaut Paul an): Komm.

(Paul geht zu ihr. Sie stehen nun im Planschbecken, als Bild für einen kräftigen Gewitterschauer) 

Lulu:

Komm in das Licht.

Komm an mein Gesicht

Schenk meiner Haut

Deine Hände

Schenk meiner Brust

Deine Lippen

Komm in das Licht

Fürchte dich nicht

(Sie streicheln und küssen sich.)

Lulu: Eiskalte Finger auf meinem glühenden Bauch. Die Wärme der Haut überall gleichzeitig… diese Wärme die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt, wie in der Gleichzeitigkeit der nackten Haut. Und wenn es vorbei ist, beginnt die Suche von Neuem. Weil es hört auf. Wenn der Augenblick vorbei ist, hört es auf, für immer. Liebe existiert nur im Augenblick. Das kann keine Moral verhindern. Aber die Moral verhindert, dass wir wieder zu suchen beginnen. Ich muss jetzt nach Hause, Paul. Und aufpassen, dass mich keiner sieht. Mein Vater macht mich sonst tot. (Lulu geht ab während Paul noch für einen Moment im Wasser verweilt.)